Swiss hat vier Langstreckenflüge, welche nach 22:30 Uhr starten:
Um 22:40 Uhr
- LX92 nach Sao Paulo / GRU
- LX138 nach Hong Kong / HKG
und um 22:45 Uhr
- LX 180 nach Bangkok / BKK
- LX288 nach Johannesburg / JNB
Das Nachtflugverbot des Flughafens Zürich verbietet den Start für solche Flüge zwischen 23:00 und 06:00 Uhr. Bei Verspätungen ist es jedoch möglich das Startfenster um dreissig Minuten bis 23:30 Uhr zu verlängern. Soviel zur Theorie. Was geschieht aber, wenn es an Tagen (wie zum Beispiel während ich das schreibe), in ganz Europa Schneechaos herrscht (wie schon im Dezember von Kollege
skypointer und
TWRMädel gebloggt) und sich die Verspätungen den ganzen Tag über anhäufen? Dann sind wir in der Praxis.
Langstreckenflugzeuge werden an einem kleinen Hub wie Zürich zu einem nicht beachtlichen Teil über Umsteigepassagiere “gefüllt”. Das bedeutet, dass die Passagiere zuerst von wo auch immer nach Zürich geflogen werden müssen, um dann im Langstreckenflugzeug den Flug antreten zu können. Das übernimmt die Regional- (Avro RJ) und Kurzstreckenflotte (Airbus 320 Familie) der Swiss. Entgegen den oft geäusserten Aussagen des (selbst ernannten) “Aviatikexperten” S.M., benötigt ein Legacy Carrier wie die Swiss genug Langstreckendestinationen und damit auch -flugzeuge um überhaupt rentabel operieren und überleben zu können. Und bei einem kleinen Heimmarkt wie dem der Swiss dafür zwangsläufig Umsteigepassagiere. Was das mit den Late-birds der Swiss zu tun hat? Ganz einfach: Wenn bei einem Flug mit einem Airbus 340-300, der in der von Swiss betriebenen Konfiguration Platz für 228 Personen bietet ein Kurzstreckenflug mit 20 Anschlusspassagieren verpätet landet, sind das 8% der Langstreckenpassagiere, die fehlen. Durch einen einzigen verspäteten Kurzstreckenflug!
Schliessen wir den Kreis: Bei einem Schneechaostag, der einen Grossteil von Europa in Mitleidenschaft zieht, werden sehr oft dutzende oder gar hunderte Flüge abgesagt. Diejenigen die dennoch stattfinden, haben sehr oft (sehr viel) Verspätung. Dann reicht es oftmals nicht, dass die Kollegen von der Kurzstrecke
alles geben, um die Verspätung aufzuholen, damit wir unsere Anschlusspassagiere haben. Mit dem Resultat, dass viele der Anschlusspassagiere fehlen. Die Airline muss dann den sehr wichtigen Grundsatzentscheid treffen, ob man die Langstrecke ohne diese abfliegen lässt (mit den damit verbundenen Konsequenzen wie Übernachtungsmöglichkeiten suchen (und bezahlen), Umbuchungen, Reklamationen, Kosten usw.) oder ob man die Langstrecke warten lässt (ebenfalls mit den damit verbundenen Konsequenzen: Reklamationen wg. Unpünktlichkeit, Gefahr des Nachtflugverbots usw.). Uns Piloten wird die Entscheidung – solange wir unsere Maximale “
Duty Time” noch nicht erreichen – abgenommen.
Zurück in die Praxis: Als ich auf meiner Vorletzten Rotation
aus dem Standby den Nachtflug nach JNB zugeteilt bekam, ahnte ich Böses im zuvor genannten Sinn, da es den ganzen Tag über schneite. So kam es denn auch, dass uns bei unserer Planung bereits gesagt wurde, dass diverse Anschlussflüge derzeit “critical” und sogar schon jetzt “negative” seien. Während bei “negative” die Verspätung schon so gross ist, dass definitiv nicht auf die Passagiere gewartet wird, besteht bei den “criticals” noch eine Chance, dass gewartet wird. Der Entscheid ist also in letzterem Fall noch nicht gefällt. Als wir im Cockpit eintreffen, erhalten wir die Meldung, dass wir ein “ETD”, eine “Estimated Time of Departure” haben. Hinter den Kulissen wurde also entschieden, dass wir auf Passagiere warten. Das erste (der aufmerksame Leser, ahnt was kommt…) ETD war auf 22:10 UTC, also 23:10 Lokalzeit ZRH angesetzt. Das bedeutete zweierlei: erstens bereits 25 Minuten Abflugverspätung und zweitens werden wir dann bereits zehn Minuten nach der ersten der “heiligen” Nachtflugsperrzeiten zurückstossen. “Departure” bedeutet hier nämlich (wie im Flugplan) zurückstossen vom Gate und nicht Abflug. Da wir uns aufgrund des Schnees bereits zum Enteisen des Flugzeuges anmelden mussten, planten wir mit einer effektiven Startzeit von ca. 23:30 Uhr. Ziemlich spät…
Es wurde noch später. Die Kurzversion der Informationen, welche wir bekamen:
- Info um 22:12 Uhr: ETD 23:10 Uhr
- Info um 23:14 Uhr: ETD 23:20 Uhr
- Info um 23:25 Uhr: ETD 23:30 Uhr
- Info um 23:30 Uhr: ETD 23:33 Uhr
- Info um 23:38 Uhr: ETD 23:40 Uhr
Etwas ausführlicher: Zwischen diesen Informationen lagen diverse Anrufe bei unserer Einsatzleitstelle um zu fragen, wann und ob die Passagiere dann noch kommen würden und um abzuklären ob und sicherzustellen dass wir noch starten durften. Dazu kamen diverse Ansagen des Captains an die Passagiere, welche die Situation erklärten und persönliche Besuche in der Kabine. Interessant ist, wenn unter solchen Bedingungen Passagiere das Gefühl haben, dass wir sie anlügen würden (“Geben Sie es doch zu, es fehlen gar keine Anschlusspassagiere. Ich habe es satt, immer angelogen zu werden.”), obwohl einige Minuten später zahlreiche Leute durch die Türe spazieren.
Als die Passagiere dann endlich erschienen (was der “angelogene” Passagier dachte, entgeht meiner Kenntnis…), musste “nur noch” das Gepäck geladen werden. Aber auch das geht bei Temperaturen wesentlich unter dem Gefrierpunkt nicht einfacher, denn die Bodencrew und die Technik stiessen an ihre Grenzen: Das Ladesystem klemmt, da mehrere Teile eingefroren sind. Handarbeit und (rohe) Gewalt sind gefragt. Die Bodencrew kämpft gegen die Zeit und die unmenschlichen Temperaturen. Unser Abflug ist in Gefahr, das ETD wird immer weiter hinausgeschoben. Letzten Endes siegt die Bodencrew dank unermüdlichem Einsatz gegen die Technik und sämtliche Container und Gepäckstücke, auch diejenigen der Anschlusspassagiere, sind im Flugzeugbauch verstaut.
Um 23:40 Uhr beginnt wie vorhergesehen der
Pushback. Danach rollen wir zum Enteisen des Flugzeuges, obwohl – als wir noch am Gate standen – eine Passagierin dem Captain bei seinem Gang durch die Kabine den ernstgemeinten Tip gab, dass es nicht nötig sei, das Flugzeug zu enteisen. Der Schnee auf dem Flügel würde dann beim Fliegen schon weggeweht (sic!). Mein Kollege beantwortete diesen Tip hervorragend: “…würde er vielleicht schon, aber die Frage ist, ob wir überhaupt abheben würden, wenn soviel Schnee auf dem Flügel liegt. Und da wir das lieber nicht ausprobieren, sondern sicher sein wollen, dass wir fliegen, werden wir das Flugzeug zur Sicherheit von uns allen an Bord enteisen lassen.” Während dem Enteisen spekulieren wir darüber, ob wir überhaupt noch starten dürfen, denn es ist ja bereits kurz vor Mitternacht. Nach der erwähnten “Startverlängerung” bis 23:30 sind Starts zwar noch möglich, aber nur mit – wie es in unseren Unterlagen heisst – “further permission”. Was die Bedinungen für diese Bewilligung sind, entzieht sich meinen Kenntnissen. Unsere Einsatzleitstelle meinte nur, dass es “noch klappen” werde. Wir hofften, waren aber nicht so sicher, da das Enteisen eines schneebedeckten Airbus 340 seine Zeit benötigt. Vielleicht kann uns
TWRMädel in einem Beitrag auf “read you five” mal erklären, was in so einem Fall hinter dem Mik bzw. den Kulissen abläuft.
Auch das Enteisen brachten wir hinter uns. Inzwischen war es auf den Frequenzen still, wenn wir nicht funkten. Kein Wunder, die (natürlich ebenfalls mit Verspätung gestarteten) Kollegen der übrigen Nachtflüge waren allesamt schon in der Luft, als wir die Enteisungsfläche Richtung Piste 34 verliessen. Nach dem Überqueren der Piste 28 begrüsste uns der Aproncontroller mit den Worten: “LX288, guete Abig, taxi to Runway34, YOU ARE NUMBER ONE!”. Glächter im Cockpit. Number one? Kein Wunder, ausser uns gab es de facto niemanden mehr auf dem Flughafen, der noch abfliegen wollte. Es stimmt also doch: “Die Letzten werden die Ersten sein…”
Unsere 252 Tonnen schwere Maschine hob um genau 00:08 Uhr Lokalzeit Zürich und damit 68 Minuten nach Beginn der Nachtflugsperre ab.
PS: Beim Anflug in Zürich am übernächsten Morgen waren wir sehr zu meinem Leidwesen nur die Nummer 3 hinter den Kollegen aus BKK und HKG. Damit wäre der Beweis, dass
ich [noch] nicht mit
Schoggi im Tower war, erbracht…
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